Endlich eine Gastfamilie! Oder etwa doch nicht?

Tja. 

Da habe ich mich gestern noch in meinem letzten Post darüber ausgelassen, dass ich leider noch nichts von einer Gastfamilie wisse und - SCHWUPPS! - lag heute plötzlich eine E-Mail in meinem Posteingang, in der stand, dass ich nun doch eine Familie hätte.

Wie sagt man so schön? Ironie des Schicksals...

 

Ich war noch am Schlafen, als heute Morgen meine beiden jüngeren Geschwister mit energischem Getose in mein Zimmer stürzten und sich mit einem grossen Satz auf mein Bett warfen. Weil das ihre bevorzugte Art ist mich zu wecken, dachte ich mir erst nicht viel dabei. Als sie jedoch  lauthals "Du hast eine Gastfamilie, Evi!" zu schreien begannen, war ich auf einmal hellwach. Zuerst konnte ich kaum glauben, was sie da sagten. Eine Gastfamilie? Auch wenn ich seit Wochen schon meinen Posteingang und sogar den Spamordner täglich mehrmals kontrolliert hatte, weil ich stets mit Neuigkeiten meiner Organisation gerechnet hatte, kam diese Nachricht trotz allem überraschend. Ich hatte schon langsam begonnen, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass ich vielleicht zu den Schülern gehören könnte, die bis zum Tag der Abreise nicht wussten, wo sie schlussendlich landen würde. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich wochenlang vergeblich warten würde, während all meine andern Austauschfreunde ihre Familien bereits bekommen hätte. Wie ich  am 22. August in ein Flugzeug einsteigen würde ohne zu wissen, wohin es mich genau verschlagen würde und wie nervös mich diese Ungewissheit machen würde.

Und nun das.

 

Ich war überrascht, als ich die Email las. So überrascht, dass ich zuerst gar keine Zeit hatte aufgeregt zu sein oder vor Freude jauchzend durch die Wohnung zu hüpfen. ;) 

 

So wie es aussieht, werde ich tatsächlich in der Stadt Sendai leben; mittendrin, umgeben von unzähligen Häusern, Strassen und dem Lärm der Autos. Ich freue mich darauf, auch wenn ich im Moment noch nicht weiss, ob ich tatsächlich in einer so grossen Stadt alleine klarkommen werde. Aber das ist ja das Schöne am Austausch: Man wird ständig vor neue Herausforderungen gestellt, die es zu meistern gilt. Man geht schliesslich nicht ein Jahr von Zuhause weg, um das zu erleben, was man hier sowieso schon hat, oder?

 

Meine jetztige Gastfamilie ist eine Welcome Family, das heisst, ich werde nur den ersten Monat bei dieser Familie verbringen und danach in eine permanente Familie umziehen. Nach der wird aber im Moment noch gesucht, sodass ich genau genommen eigentlich immer noch nicht genau weiss, wohin es mich letzten Endes verschlagen wird. Deshalb auch der Titel: Ich habe zwar eine Gastfamilie, werde diese später jedoch wieder wechseln müssen. 

 

Gefreut habe ich mich trotzdem unglaublich, nachdem ich die Email gelesen habe und wollte mich natürlich sofort mit meiner Gastfamilie in Verbindung setzen. Das war jedoch leichter gesagt als getan, denn ich stellte bald fest, dass diese keine Email-Adresse hinterlassen hat. Was jetzt? Ihr könnt euch ja denken, dass die Vorstellung, irgendeiner fremden Familie in Japan, die ich überhaupt nicht kannte und noch nie in meinem Leben gesehen hatte, wahre Panikattacken in mir auslöste. Was, wenn mein Japanisch zu schlecht ist? Was, wenn sie nicht Englisch sprechen? Was, wenn ich zu einer total unpassenden Zeit anrufe?, waren die Gedanken, die immer wieder in meinem Kopf herumschwirrten.

 

Getan habe ich es trotzdem.

Ich hatte ja schlussendlich sowieso keine andere Wahl und die Sache herauszudrängen hätte wahrscheinlich alles noch viel schlimmer gemacht. Normalerweise habe ich keine Angst davor jemandem anzurufen, den ich nicht kenne. Aber wenn derjenige am andern Ende der Leitung deine Sprache nicht versteht und du keinen Schimmer hast, ob er dich verstehen wird, ändert sich die Situation schlagartig. Ja, ich gebe es zu: Ich habe gezittert, als ich den Hörer in die Hand genommen habe. Und ich habe mich etwa dreimal vertippt und die Vorwahlnummer vergessen, bevor ich endlich die richtige Nummer wählte.

 

Mein Herz rutschte mir förmlich in die Hose, als sich am Telefon nach einer halben Minute auf einmal eine Stimme meldete. Blitzschnell stammelte ich die paar japanischen Sätze hinunter, die ich mir zuvor auf einem Blatt Papier notiert hatte - sicher ist sicher!

"Konbanwa", begrüsste ich den fremden Mann auf der andern Seite der Leitung. Übersetzt heisst das soviel wie Guten Abend, weil es in Japan wegen der Zeitverschiebung zu diesem Zeitpunkt bereits abends um 8 Uhr war. "Ich bin Evelyne. Ich komme aus der Schweiz. Ich habe heute die Email von meiner Organisation bekommen." Das war so etwa das, was ich in meiner Nervosität in gebrochenem Japanisch hervorbringen konnte. "Sprechen Sie Englisch?", fügte ich dann rasch hinzu, als der Mann mit einem Schwall japanischer Wörter auf mich einzureden begann. Er sagte etwas für mich Unverständliches, was ich als klares"Nein" deutete, und holte anschliessend jemand anderes ans Telefon. Wie sich herausstellte, war es meine Gastschwester, die ein Jahr älter ist als ich und glücklicherweise sehr gut Englisch spricht. Wir unterhielten uns ein paar Minuten lang - Worüber spricht man mit jemandem, den man noch gar nicht kennt? - und sie sagte mir, dass sie sich sehr auf meine Ankunft freuen würde. Dann tauschten wir noch Email-Adressen und facebook-Namen aus und das war's dann auch schon. Erleichtert, glücklich und noch viel aufgeregter als zuvor legte ich den Hörer auf.

 

Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist, aber meine Vorfreude ist seit diesem kurzen Telefonat noch viel grösser geworden - inzwischen hat sie nahezu unbeschreibbare Ausmasse angenommen. Mein Herz beginnt jedes Mal zu rasen, wenn ich wieder an Japan denke (was ich inzwischen im Sekundentakt tue) und mein Kopf ist voll von Gedanken, die ich selbst nicht so ganz zuordnen kann.

 

Jetzt ist es soweit: Ich habe alles, was ich brauche. Anmeldung, Visum, Gastfamilie.

Es kann endlich losgehen.

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