Ankunft im Land der aufgehenden Sonne

Mein Abenteuer beginnt am 22. August um sechs Uhr morgens, als ich mich aus dem Bett raffe, um mich von einer meiner Schwestern zu verabschieden. Die Koffer sind gepackt und nach gefühlten tausend Mal abwägen auch endlich reisebereit. Ob ich es jedoch auch bin, weiss ich ehrlich gesagt selbst noch nicht. Ich bin nervös; kaue ständig an meinen Nägeln herum, lasse die Kaffeemaschine laufen obwohl noch gar keine Kapsel drin ist und renne alle paar Minuten wieder in mein Zimmer, um nochmals meine Packliste zu checken. Auch wenn diese vollständig ist, werde ich das ungute Gefühl nicht los, dass ich etwas vergessen habe.

Geschlafen habe ich natürlich so gut wie gar nicht. Wie auch? Mit all den Gedanken, die in meinem Kopf herumirrten, dem lauten Klopfen meines Herzens und dem ständigen Drang wieder aufzustehen und noch etwas unglaublich Wichtiges aufzuschreiben, erwies sich das Einschlafen schnell als ein Ding der Unmöglichkeit. Müde bin ich aber trotzdem nicht. Die Aufregung vor dem bevorstehenden Abflug verdrängt im Moment alle andern Gefühle, die sonst noch so in mir rumschwirren.

Um halb 10 fahren wir dann schliesslich ab. Durchs Fenster sehe ich zum letzten Mal die vertraute Umgebung meiner Heimat vorbeiflitzen und versuche dabei, mir alles nochmals genaustens einzuprägen. Der Flughafen Zürich kommt mir nun plötzlich wie ein gigantischer Magnet vor, der mich unbarmherzig immer näher an sich heran zieht. Mir ist inzwischen speiübel vor Nervosität.

Als wir ankommen, hat sich der grösste Teil unserer Gruppe bereits versammelt. Wir sind insgesamt 6 Schüler aus der Schweiz, die ihr Austauschjahr in Japan verbringen werden. Alle sind aufgeregt. Manche müssen sich noch von ihren Eltern verabschieden, andere haben sich bereits alleine auf dem Weg zum Flughafen gemacht.

Auch ich verabschiede mich. Ich werde hier nicht beschreiben, wie leicht es mir gefallen ist – denn das wäre gelogen. Ja, es sind Tränen geflossen. Und ja: Auch meine. Aber auch das gehört eben zu einem Austauschjahr dazu.

Mit einem nun etwas mulmigen Gefühl im Magen mache ich mich mit der Gruppe auf den Weg zum Gate. Wir reden darüber, wie sehr wir es immer noch nicht realisieren können, dass dieser Tag, auf den wir so lange gewartet haben, nun endlich gekommen ist; dass wir tatsächlich ein Jahr in Japan verbringen werden. Ich fühle mich seltsam. Traurig und gleichzeitig so euphorisch, dass ich die ganze Welt hätte umarmen können.

Der Flug selbst verläuft relativ unspektakulär. Meine anfängliche Neugier darüber, wie es wohl sein würde in einem Langstreckenflugzeug zu fliegen, verblasst sehr schnell wieder. Die meiste Zeit verbringe ich mit Schlafen – oder versuche es jedenfalls – und Musik hören. Schlussendlich sind die 12 Stunden dann doch schneller um als erwartet. Vom Jet-Lag spüre ich noch gar nichts, auch wenn ich doch schon ein wenig müde bin, als wir um 8 Uhr morgens (Japanische Zeit) endlich japanischen Boden berühren. Das erste, was mir auffällt, ist die Hitze. Na ja, um genau zu sein ist es nicht die Hitze selbst sondern vielmehr die extrem schwüle Luft, die mich wie eine dicke Wolldecke zu umhüllen scheint und mir kaum Sauerstoff zum Atmen mehr lässt. Schon nach wenigen Minuten bin ich völlig verschwitzt und sehne mich insgeheim bereits wieder zurück in die klimatisierten Gänge des Fliegers.

Empfangen werden wir von ein paar Freiwilligen der Organisation, von denen die meisten bereits ein Austauschjahr hinter sich haben. Inzwischen ist es kurz nach 9 Uhr; jetzt ist Warten angesagt bis zum Abfahrt unseres Buses am Mittag. Nach und nach treffen auch die Austauschschüler aus den andern Ländern ein. Es wird begrüsst, gelacht und in einem Mischmasch aus Englisch, Deutsch und Französisch irgendwie versucht zu kommunizieren. Mit jeder weiteren Minute, die verstreicht, wird die aufkommende Müdigkeit stärker. Schliesslich machen wir uns auf den Weg zum nächsten Kiosk, um dort mit etwas zu Trinken gegen die Energielosigkeit vorzugehen. Ich schnappe mir die erstbeste Flasche im Regal, die ich sehe. Vielmehr als ein Ratespiel ist das sowieso nicht, wenn man nicht einmal lesen kann, was sich überhaupt darin befindet. Ein wenig später stellt sich heraus, dass meine Wahl nicht gerade die Beste war. Algentee ist auf jeden Fall etwas, auf das ich von nun an gerne in Japan verzichten werde.

Damit wir nicht die ganze Zeit nur rumsitzen und uns langweilen müssen, beschliessen unsere Gruppenleiter schliesslich, mit uns eine kleine Tour durch den Flughafen Narita zu machen. Ich bin fasziniert von all den Dingen, die wir dabei entdecken: Läden mit haufenweise Kimonos oder Yukatas, Spielzeug, Fächer in allen Farben und Formen, Manga- und Anime Fanartikel und und und... Mir geht es, wie den meisten von uns auch: Wir kommen kaum mehr aus dem Staunen heraus und müssen mit dem Fotoapparat jedes kleinste Detail bildlich festhalte, um unsere Euphorie mit der ganzen Welt teilen zu können.

Wenig später geht es dann endlich auf den Bus. Die wohl wichtigste Erkenntnis dieses Tages ist, dass Tokio Narita eigentlich etwa 60 km von Tokio selbst entfernt ist – und wir damit noch ein ganzes Stück mit dem Bus zurücklegen müssen. Während der Fahrt nicke ich kurz ein, erwache aber sofort wieder, als wir in die Strassen Tokios einbiegen. Hochhäuser reihen sich an Hochhäuser, überall riesige Plakate, Verkehr und Leuchtwerbung – eine Grossstadt aus dem Bilderbuch. Völlig fasziniert hänge ich die ganze Zeit über am Fenster und realisiere nun zum ersten Mal, dass ich tatsächlich in Japan ankommen bin.

Unsere Unterkunft ist das NYC; das steht nicht – wie anfangs angefangen – für New York City sondern für National Youth Center: Eine Art Jugendherberge also. Als wir aussteigen, schlägt mir die unglaubliche Hitze wieder entgegen. Hunderte von Geräuschen, die ich in meinem ganzen Leben noch nie gehört habe, dröhnen in meine Ohren. Ich komme mir vor wie im Dschungel und das Gefühl von unbeschreibbarer Aufregung durchfährt meinen ganzen Körper.

Das Orientation Camp beginnt mit der Vorstellung der freiwilligen Helfer und der Unterteilung der verschiedenen Gruppen. Ich gehöre zu Gruppe 3; Schweiz und Österreich. Die meisten kenne ich daher noch vom Vorbereitungscamp her. Gemeinsam werden wir schonmal ein wenig in die japanische Kultur eingeführt und werden uns wieder einmal bewusst, was es eigentlich heisst, ein Jahr lang in einem völlig fremden Land zu leben. Um halb 5 können wir dann endlich unsere Zimmer beziehen. Es dauert keine fünf Minuten, bis wir allesamt eingeschlafen sind.

Beim anschliessenden Abendessen probiere ich zum ersten Mal richtig japanisches Essen. Ein exotischer Höhenflug, wie es einer der andern Austauschschüler so passend beschreibt. Der Geschmack ist völlig anders als alles, was ich bisher gegessen habe – doch genau das mag ich irgendwie. Auch die Sache mit den Stäben zu essen läuft besser als erwartet und ich kann sogar schon Reis damit aufschaufeln.

An diesem Abend gehe ich auch zum ersten Mal in ein japanisches Gemeinschaftsbad. Es wird dort – geschlechtergetrennt natürlich – nur nackt gebadet und vor dem Einsteigen in den kochend heissen Pool zuerst gründlich geduscht, um das Wasser nicht zu verschmutzen. Das mit dem Nacktsein ist zwar sicherlich etwas, an das ich mich noch gewöhnen muss, aber ich mag die japanische Badetradition bereits jetzt.

Todmüde, aber überglücklich falle ich schliesslich irgendwann kurz vor Mitternacht ins Bett. Den nächsten Tag verbringen wir mit weiteren Einführungen, Erklärungen und eine Menge Spiele, um uns besser kennenzulernen und uns schonmal ans japanische Leben zu gewöhnen. Zum Abschluss wird eine Talentshow veranstaltet und anschliessend hat jeder Schüler die Möglichkeit, nach vorne zu gehen und eine kleine Rede zu halten über seine Erwartungen an dieses Jahr. Nachdem mir eine andere Austauschschülerin einen kleinen Schubs gegeben hat, traue ich mich ebenfalls. Ich erzähle der Menge, weshalb ich hier bin und wie ich die letzten zwei Tage genossen habe. Mein Traum ist endlich wahr geworden und ich erlebe endlich das, worauf ich seit mehr als einem Jahr gewartet habe.

Morgen werde ich meine Gastfamilie zum ersten Mal treffen und Tokio damit verlassen. Ich bin nervös, aber ich bin zuversichtlich, dass alles gut gehen wird.

 

Mein Austauschjahr hat nun also begonnen und ich freue mich darauf, (hoffentlich) jede einzelne Sekunde davon geniessen zu können. Dass eine solche Erfahrung ein wahres Wechselbad der Gefühle ist, kann ich bereits jetzt bestätigen. Einfach wird es bestimmt nicht immer sein – aber wie die Japaner so schön sagen: がんばって- Gib dein Bestes!

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Kommentare: 2
  • #1

    Hans Aschwanden (Pa) (Montag, 26 August 2013 07:34)

    Liebe Evelyne, herrlich geschrieben und amüsant zu lesen. Alles Gute und viel Vergnügen in Japan.

  • #2

    Selina Aschwanden (Sis) (Montag, 26 August 2013 19:40)

    Evchen... teent alles sehr spannend!! :) :* frei mich scho ufä next iitrag. ;)