Die erste Woche oder: Was Kühe in der Schule zu suchen haben

Wer noch nie in Tokio war, kann sich die Grösse dieser Stadt wohl kaum vorstellen. Als ich zum ersten Mal die grauen Häuserschluchten, Läden und Leuchtschilder erblickte, war ich als Landei natürlich völlig überwältigt. Meine Augen schienen am Busfenster zu kleben, mein Kiefer klappte 10 Stockwerke weiter hinunter und plötzlich gab es nur noch mich und meinen Fotoapparat auf dieser Welt.

Das alles war jedoch nichts im Vergleich zum Augenblick, als ich am frühen Sonntagmorgen (25. August) zusammen mit andern Austauschschülern und unsern Camp-Leitern Tokio Station betrat. Riesig ist da nur der Vorname. Schon nach zwei Minuten hatte ich völlig die Orientierung darüber verloren, wo wir uns befanden. Ich kam mir vor wie in einem gigantischen Labyrinth aus Gängen, Abteilungen und Schildern, aus dem es keinen Ausgang mehr zu geben schien. Die Tatsache, dass das meiste auch in Englisch angeschrieben war, war nur ein kleiner Trost, denn ehrlich gesagt fühlte ich mich ziemlich verloren inmitten all dieser weiss gestrichenen Wände.

Nach einer kurzen Wartezeit löste sich unsere Gruppe auf und wir machten uns mit den Camp-Leitern auf den Weg zu den richtigen Gleisen. Japanische Bahnhöfe müsst ihr euch vorstellen als eine Art riesige Kommode mit verschiedenen Schubladen. Am Anfang löst man sein Ticket und benutzt damit den ersten Durchgang zur ersten Schublade bzw. Abteilung. Von dort aus kann man nun weitere Schubladen öffnen und durch weitere Unterabteilungen hindurchgehen, bis man schlussendlich sein Ziel erreicht hat. Klingt kompliziert, ergibt aber eigentlich Sinn, wenn man sich etwas daran gewöhnt hat.

Gemeinsam mit zwei Amerikanern und einer Belgierin wurde ich schliesslich in den richtigen Shikansen gesteckt und verabschiedet. Nun waren wir wieder auf uns alleine gestellt. Die Fahrt dauerte knapp zwei Stunden, die ich mehrheitlich mit Musikhören und Essen verbrachte. Meine Sitznachbarin war ziemlich nervös ihre Gastfamilie zu treffen, aber ich muss gestehen, dass die ständige Müdigkeit bei mir wohl jegliche Aufregung unterdrückte. Ich nickte einige Male ein und meine Nachbarin musste mich ständig wieder wecken, damit ich wennschon noch etwas von der schönen Landschaft Japans mitbekomme. Als Austauschschüler braucht man wirklich eine Menge Schlaf – soviel kann ich euch versichern!

Um halb 2 war es dann endlich soweit: Wir erreichten Sendai Station. Gemeinsam mit einer andern Austauschschülerin schnappte ich mir meine Koffer und stieg aus. Kaum auf dem Bahnsteig angekommen, wurden wir auch schon von einer ganzen Horde fremder Menschen empfangen, die alle gleichzeitig auf uns einredeten. Ein paar Mitglieder der Organisation, meine Gasteltern mit meiner Gastschwester und sogar ein Lehrer von meiner Schule waren gekommen, um uns zu begrüssen! Ich fühlte mich von der ersten Sekunde an wohl und war mir sicher, dass ich während dieses Jahres in guten Händen sein würde.

Der erste Abend mit meiner Gastfamilie war toll, auch wenn ich natürlich alles falsch machte, was man als Ausländer in Japan überhaupt falsch machen kann: Mit den Toilettenschuhen in der Wohnung herumlaufen, mir während des Abendessens zuviel Reis schöpfen und Duschen gehen, ohne das Bad zu benutzen. Glücklicherweise war meine Gastfamilie da nicht so streng, sondern lachte nur und machte mich auf meine Fehler aufmerksam.

Mein neues Zuhause ist wirklich – wie die Japaner immer sagen – sugoi すごい(=awesome)! Es ist fast vollständig aus Holz und mehrheitlich im traditionell japanischen Stil gehalten. In meinem Zimmer ist der ganze Boden mit Tatami-Matten bedeckt und ich schlafe dort auf einem Futon (also eine Art dünne Schlafmatte, die man jeden Abend wieder neu ausrollen muss). Ihr könnt euch das etwa SO vorstellen.

Dass ich kein Bett mehr besitze, stört mich eigentlich überraschend wenig. Allerdings hatte ich bis vor Kurzem noch keine Tür, weil mein Zimmer direkt mit dem Wohnzimmer verbunden ist und meine Gasteltern daher immer den Fernseher abschalten mussten, wenn ich ins Bett ging. Gestern wurde also eine neue Tür montiert – ja, eine richtig japanische Tür mit Papierfenster! - und seitdem muss ich mich morgens endlich nicht mehr im Badezimmer umziehen. Meine Gastfamilie denkt nun auch, dass sie mich – jetzt, wo ich etwas mehr Privatsphäre habe – wohl das ganze Jahr lang bei sich behalten werden. Ich freue mich auf jeden Fall darauf! Bis jetzt haben wir wirklich eine sehr schöne Zeit zusammen verbracht, haben viel gelacht und einander kennengelernt. Und wenn ich ehrlich bin, erinnert mich meine Gastfamilie auch etwas an meine Familie Zuhause: Verrückt, aber echt nett. :)

Dienstags ging ich zum ersten Mal in die Schule. Gemeinsam mit zwei andern Austauschschülern von einer andern Organisation wurde ich erst einmal richtig eingekleidet. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie lange es dauerte, bis ich endlich die passende Grösse gefunden hatte! Seltsam, aber wahr: In Japan gelte ich mit meinen 1.60 Metern als gross...

Den Augenblick, als ich zum ersten Mal das Klassenzimmer betrat, werde ich wohl nie wieder vergessen. Alle Mädchen schrien und umringten mich und redeten auf mich ein, sodass ich zuerst einmal etwas überfordert mit der ganzen Sache war. Dann aber versuchte ich mit meinem doch noch sehr beschränkten Japanisch eine Konversation zu beginnen – das klappte zwar nicht ganz, aber wenigstens sprechen all meine Klassenkameraden Englisch und helfen mir immer, wo sie nur können.

Man kann schon sagen, dass ich als Austauschschülerin in der ganzen Schule bekannt bin. Auf dem Flur winken mir alle Schüler zu und lachen dabei, weil ich natürlich immer und überall auffalle wie ein bunter Hund. Das Tolle an meiner Schule ist, dass hier auch Französisch unterrichtet wird – so werde ich in diesem Jahr hoffentlich nicht alles verlernen! Wir Austauschschüler haben auch Japanisch Unterricht, wobei ich gestehen muss, dass ich dabei noch nicht wirklich etwas gelernt haben. Die meiste Zeit plaudern wir drei mit dem Sensei in Englisch und erzählen ihm von unseren Erlebnissen, anstatt zu lernen. Aber das ist schon in Ordnung so. Die Japanischkenntnisse von uns dreien sind Lichtjahre voneinander entfernt und meistens nutze ich sowieso meine Freistunden, um selbstständig zu lernen.

Der Höhepunkt dieser Woche war wohl das School Festival, das heute statt gefunden hat. Die ganze Schule war in Feierlaune; auf den Fluren waren Stände mit Esswaren und Getränken aufgestellt, es gab Musik, Tanzeinlagen und ja – sogar eine echte Kuh, die man melken konnte! Was soll man dazu noch sagen? Die spinnen, die Japaner. ;)

Diese erste Woche im Land der aufgehenden Sonne war also auf jeden Fall unvergesslich toll und von mir aus kann es das ganze Jahr so weitergehen. Es gäbe noch viele Erlebnisse, über die ich hier berichten könnte (zum Beispiel, wie ich es bereits am zweiten Schultag geschafft habe mich in Sendai zu verlaufen...), aber ich glaube, ich spare mir das für nächsten Sonntag auf. Mein Ziel bis dahin: So viel Japanisch lernen wie nur irgendwie möglich – und meine Zeit hier in vollen Zügen geniessen.

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Kommentare: 2
  • #1

    Mam (Sonntag, 01 September 2013 18:42)

    Freiwä mich scho uf dä nechschti itrag am sunntig.

  • #2

    Gustav Sucher (Mittwoch, 05 Dezember 2018 09:45)

    Mein Kiefer hat nur 3 Stockwerke. Ich liebe es wenn, die ganzen Anzeigen und die Leuchtschilder in der Stadt leuchten. Allerdings kann das auf Dauer auch mal schnell Anstrengend werden. Wenn man ins Ausland geht, dann macht es immer Spaß auch ein wenig dieser Sprache zu verstehen. Danke für den Erlebnis Bericht. http://www.huber-reklametechnik.com/