Lost in Japan

Wenn ich bis jetzt Eines gelernt habe in meinem Austauschjahr, dann wohl die unangenehme Tatsache, dass sich in einem fremden Land Altbekanntes plötzlich zu einer gewaltigen Herausforderung entwickeln kann. Dinge, die man jahrelang problemlos gemeistert hat, werden nun zu scheinbar unüberwindbaren Hindernissen und man fühlt sich auf einmal wieder wie ein kleines Kind. In einem gewissen Sinn ist man das wahrscheinlich auch; schliesslich muss man – angefangen von der Sprache bis hin zu den Verhaltensweisen – alles, was man dachte zu beherrschen, nochmals neu lernen. Doch der wirklich schwierige Teil daran ist wahrscheinlich sich einzugestehen, dass man in einem völlig fremden Land nicht mehr so unabhängig und selbstständig sein kann wie man es gerne wäre.

Zum ersten Mal erfahren durfte ich das vor knapp zwei Wochen. Ich hatte bereits den ersten Schultag hinter mich gebracht und glaubte nun zu wissen, wie die Dinge von nun an laufen würden. Als mich meine Gasteltern fragten, ob ich am nächsten Tag alleine mit dem Bus nach Hause fahren könne, antwortete ich ohne zu zögern: „Na, klar doch!“ Warum auch nicht?, dachte ich mir. Die Strecke war ja nicht lange und zur Not hatte mir meine Gastschwester sogar aufgeschrieben, wo ich genau aussteigen muss. Was konnte da schon schief gehen?

Tja – einiges, wie ich später erfahren musste. Zu diesem Zeitpunkt jedoch machte ich mir noch keine grossen Gedanken darüber. Busfahren war schliesslich etwas, das ich Zuhause in der Schweiz schon tausend Mal alleine gemeistert hatte – deshalb, und davon war ich überzeugt, würde es auch in Japan sicher kein grosses Problem darstellen.

Ahnungslos darüber, was mich erwarten würde, machte ich mich also nach der Schule auf den Weg zur Haltestelle. Ich verglich den Fahrplan mit den Kanjis, die mir meine Gastschwester aufgezeichnet hatte, und merkte mir die Ankunftszeit des Buses. Pünktlich kam er ein paar Minuten später auch schon angerattert und ich stieg – ohne gross darüber nachzudenken – sofort ein. Erleichtert liess ich mich auf meinen Sitz sinken. Weil mir die Umgebung bekannt vorkam, war ich mir sicher alles richtig gemacht zu haben. Ich lehnte mich müde zurück und freute mich schon darauf, endlich aus meinen verschwitzten Klamotten herauzukommen, wenn ich erst einmal wieder Zuhause war.

Als ich jedoch das nächste Mal aus dem Fenster schaute, wurde ich plötzlich stutzig. War ich an diesem Gebäude schon jemals vorbeigefahren? Und dauerte die Fahrt nach Hause nicht eigentlich kürzer – oder bildete ich mir das nur ein?

Je weiter der Bus fuhr und je unbekannter mir die Umgebung vorkam, desto sicherer war ich mir, dass ich womöglich doch einen Fehler gemacht hatte. Als ich auf einmal als Einzige noch im Bus sass, fasste ich all meinen Mut zusammen und fragte den Chauffeur, ob ich hier denn richtig sei. Er sah mich verwundert an und schüttelte dann den Kopf. Natürlich sprach er kein Wort Englisch, weshalb er etwa fünf Minuten damit verbrachte mir zu erklären, dass die nächste Station Endstation sein würde. Auf die Frage, was ich denn nun tun sollte, zeichnete er mir auf einem Notizpapier den Weg zur nächsten Haltestelle ein. Von dort aus, meinte er, würde ich den richtigen Bus nach Hause erwischen.

Ich bedankte mich bei ihm, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich ihn tatsächlich richtig verstanden hatte. „Pass auf dich auf!“, rief er mir in Japanisch hinterher, als ich schliesslich an der nächsten Station ausstieg.

Inzwischen hatte sich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengrube breit gemacht. Dennoch war ich immer noch davon überzeugt, dass ich es schon irgendwie alleine nach Hause schaffen würde. Ich versuchte der aufgekritzelten Karte des Buschaffeurs zu folgen, aber das erwies sich als leichter gesagt als getan. Die Umgebung, in der ich mich befand, wirkte seltsam ausgestorben und obwohl ich mich an einer sehr befahrenen Strasse befand, konnte ich kaum Menschen um mich herum entdecken. Nachdem ich ein paar Mal erfolglos dieselbe Gasse auf- und abgelaufen war, gab ich es schliesslich auf. Kurzerhand betrat ich den erstbesten Laden, den ich in diesem verlassenen Stadteil überhaupt finden konnte, und erklärte der Verkäuferin mein Problem. Diese sprach natürlich auch kein Englisch, war jedoch so freundlich mich rasch zur Bushaltestelle zu begleiten. Ich erzählte ihr in meinem gebrochenen Japanisch meine Geschichte und sie stellte Fragen, die ich weder verstehen noch beantworten konnte, aber irgendwie schafften wir es doch eine Art von Unterhaltung zu führen. Nachdem ich mich tausend Mal bei ihr bedankt hatte und sie sich versichert hatte, dass ich es von nun an alleine schaffen würde, war ich wieder auf mich gestellt. Kein Problem, dachte ich. Von hier aus sollte ich es nun wirklich alleine schaffen!

Tja, Fehlanzeige.

Das heisst: Wahrscheinlich hätte ich es tatsächlich geschafft, wenn mein Sturkopf nicht anders entschieden hätte. Ihr könnt euch ja vorstellen, wie überrascht ich war, als ich beim Nachsehen auf dem Fahrplan feststellte, dass mein Zuhause nur zwei Stationen weiter entfernt war. Weil ich gerade sowieso knapp den Bus verpasst hatte und der nächste erst in einer Stunde kommen würde, entschied ich mich zu Fuss zu gehen. Es waren doch nur zwei Stationen, oder? Wie schwer konnte das schon sein?

Ja, ich gebe es zu: Das war ziemlich blöd von mir. Aber zu diesem Zeitpunkt war ich bereits so erschöpft, dass mir eigentlich jedes Mittel recht schien um endlich nach Hause (und damit auch zurück zu meinem weichen Futon) zu kommen und ich deshalb kaum über die Konsequenzen nachdachte.

Also lief ich einfach los.

Zuerst funktioniert das noch überraschend gut. Die Strasse führte die ganze Zeit über nur geradeaus und es dauerte nicht lange, bis ich tatsächlich die nächste Haltestelle erreichte. Optimistisch wie ich war, hatte sich jetzt in mir wieder die Überzeugung breit gemacht, dass ich nach all den Strapazen nun doch noch heil Zuhause ankommen würde. Ich ging also frischfröhlich weiter – bis die erste Kreuzung kam. Von da aus... na ja, da lief es plötzlich nicht mehr so gut. Ich versuchte mir eine Strategie zurechtzulegen und alle Strassen nacheinander abzuklappern, bis mir die Umgebung irgendwann bekannt vorkommen würde, aber das klappte natürlich hinten und vorne nicht. Kurzum: Es dauerte etwa 10 Minuten, bis ich völlig die Orientierung verloren hatte – und 30 weitere, bis ich mir das endlich eingestehen konnte. Mein Gedächtnis schien sich an keine Strasse, kein Gebäude, keine Wegmarkierung mehr erinnern zu können und trat auf die Blockade. Am Horizont senkte sich langsam die Sonne und der Himmel verfärbte sich orange-rot. Ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann, und beschleunigte meine Schritte. Irgendwann landete ich schliesslich wieder an einer Bushaltestelle. Auch wenn diese zu meiner grossen Enttäuschung in die falsche Richtung ging – wie hätte es auch anders sein können? – blieb ich trotzdem stehen, weil ich mich nun nicht mehr traute auch nur einen Schritt weiter zu gehen. Ich tat also das, was ich eigentlich die ganze Zeit über hatte vermeiden wollen: Ich rief meine Gastfamilie an.

Diese hatte sich natürlich schon Sorgen um mich gemacht, weil ich inzwischen um mehr als zwei Stunden zu spät dran war. Ich versuchte die Situation in Japanisch irgendwie zu erklären, was leider nur so halbwegs funktionierte, und meiner Gastmutter den Ort zu beschreiben, an dem ich mich befand. Wenige Minuten später kam sie auch schon mit dem Auto angefahren und das erste, was sie tat, war mich in die Arme zu nehmen – nicht etwas, das für Japaner unbedingt üblich ist. „Yokatta“, sagte sie dann, was soviel heisst wie: Zum Glück ist dir nichts passiert!

Das Gefühl in meinem Magen verstärkte sich und ich musste mir meine Tränen zurückhalten. Erst jetzt bemerkte ich, wie erleichtert ich war. Es fühlte sich gut an, einfach nur im Auto zu sitzen und zu wissen, dass man zu einem vertrauten Ort zurückkehren konnte. Insgesamt wären es zwar nur noch 300 Meter von der Haltestelle bis zu unserem Haus gewesen, aber wie hätte ich das auch ahnen können? Ich war nur froh, endlich wieder Zuhause zu sein.

Ich staunte nicht schlecht, als mir mein Gastvater am darauffolgenden Morgen plötzlich ein kleines Fotoalbum in die Hand drückte. Darin befanden sich lauter Bilder von den Strassen der Umgebung, in der wir leben, und Beschreibungen auf Englisch. Als ich ihn fragend anblickte, grinste er nur und meinte: „Das ist für das nächste Mal, wenn du wieder zu Fuss nach Hause laufen willst.“

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