Mein neuer Alltag

Es fällt mir schwer zu glauben, dass ich inzwischen schon mehr als 3 Wochen in Japan bin. Seit sich mein neuer Alltag hier eingependelt hat, rast die Zeit nur so an mir vorbei. Inzwischen kommt mir der Tag, als ich meine Heimat verlassen habe und in den Flieger gesteigen bin, bereits unendlich weit weg vor. Es fühlt sich irgendwie irreal an daran zurück zu denken. So vieles hat sich in diesen drei Wochen verändert, so viel ist passiert und geschehen. Mein Kopf kann all die Eindrücke, die ich schon gesammelt habe, noch gar nicht richtig verarbeiten. Ich weiss, dass ich hier bin, dass mein Traum endlich in Erfüllung gegangen ist – und doch habe ich irgendwie immer noch nicht ganz realisiert, was eigentlich geschehen ist, dass ich tatsächlich ein Jahr in Japan verbringen werde. Es ist seltsam, nicht wahr? Ich habe mich so lange auf diese Erfahrung vorbereitet, habe Blogs gelesen und mir in Gedanken mein neues Leben ausgemalt und trotzdem fällt es mir jetzt schwer, all das zu begreifen. Wahrscheinlich ist ein Austauschjahr wirklich etwas, das man sich nicht vorstellen kann, bevor man es nicht selbst erlebt hat.

Auch wenn mein Verstand wohl noch eine Weile braucht, bis er endlich in Japan ankommt, hat sich der Rest von mir in diesen Wochen gut eingelebt. Die ersten paar Tage fühlten sich noch seltsam an, aber spätestens nach meinem ersten Schultag machte sich überraschend schnell wieder der Alltag breit – ein Alltag, der sich eigentlich gar nicht so sehr von meinem vorherigen unterscheidet: Ich gehe zur Schule, komme nach Hause, esse, lerne vielleicht noch etwas und gehe ins Bett, bis der Kreis am nächsten Morgen schliesslich wieder von vorne beginnt. Klingt ziemlich unbeeindruckend? Tja, das ist es wohl auch. Ein Austauschjahr ist schlussendlich auch nur ein weiteres Jahr in meinem Leben und kein Ferientrip.

Mein Tag beginnt meistens damit, dass ich mich um halb 7 Uhr morgens aus dem Bett raffe, meinen Futon zusammenfalte und anschliessend mit meiner Gastfamilie frühstücke. Die Japaner essen sogar Reis und Fisch zum Frühstück, was mir persönlich aber so früh am Morgen einfach zuviel ist. Ich bleibe da lieber bei Toast und Konfitüre.

Eine halbe Stunde später verlassen meine Gastmutter und meine Gastschwester das Haus, wenig später auch mein Gastvater. Ich selbst muss erst um viertel vor 8 weg, weshalb ich dann noch etwas Zeit für mich habe, bevor ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle mache. Der Bus ist jeden Morgen – ausnahmslos – zu spät, weshalb ich es meistens nicht eilig habe dorthin zu kommen. Es ist auch nicht unbedingt angenehm minutenlang in meiner Schuluniform an der Haltestelle rumstehen zu müssen, weil es draussen doch immer noch sehr heiss ist. Ist der Bus dann endlich angekommen, ist er eigentlich immer überfüllt. Sich nach ein paar Stationen dann den Weg zum Ausgang zu bahnen, ist eine Kunst für sich.

Nachdem ich endlich bei der Schule angekommen bin, bleibt mir noch eine Viertelstunde, die ich dazu nutze, in der Bibliothek noch etwas Japanisch zu lernen. Anschliessend gehe ich ins Klassenzimmer, wo ich immer mit lautem Ohayou (Guten Morgen!) begrüsst werde, und der Schultag beginnt. In den Lektionen kriege ich eigentlich kaum etwas mit, weshalb ich mir die Zeit mit Vokabelnlernen oder Tagträumen totschlagen muss. Englisch ist nach wie vor mein Lieblingsfach, weil es die einzige Stunde ist, in der ich wennschon begreife worum es geht. Meine Englischlehrerin, die gleichzeitig auch meine Klassenlehrerin ist, hat mich inzwischen als ihre Assistentin engagiert, um der Klasse bei der Aussprache der Wörter zu helfen. ;)

Grundsätzlich unterscheiden sich die Fächer hier kaum von denen meiner vorherigen Schule, aber einige Besonderheiten gibt es natürlich schon. Zum Beispiel haben die Schüler hier shodo, also Kalligrafie (nicht wirklich meine Lieblingsbeschäftigung...), und Gesundheit als Fächer und in den Sportlektionen können sie grösstenteils selbst entscheiden, was sie tun wollen.

Die Mittagspause verbringe ich entweder mit meinen Klassenkameraden oder mit den beiden andern Austauschschülern an meiner Schule. Eine Cafeteria gibt's hier nicht, dafür bekommt jeder Schüler morgens von seiner Mutter ein sogenanntes Obentou mit. Das ist eine Art Lunchpaket mit kleinen Beilagen und – wie könnte es auch anders sein? – natürlich Reis.

Nach der Schule geht es meistens direkt nach Hause. Das erste, was ich dort tue ist mich umzuziehen und mir die Hände zu waschen – das gehört sich in Japan so. Danach putze ich meine Obentoubox und ruhe mich etwas aus. Nach dem Abendessen, bei dem man selbstverständlich auch wieder Reis isst, ist dann Baden angesagt. Das heisst, eigentlich wird zuerst geduscht, und dann in die Wanne gestiegen, denn alle Familienmitglieder benutzen dasselbe Badewasser. Um 9 oder halb 10 bin ich dann meistens schon im Bett – ich bin nach jedem Tag so erschöpft, dass ich mich abends manchmal kaum wach halten kann. Ständig mit neuen Eindrücken bombadiert zu werden und sich den ganzen Tag nur in einer Fremdsprache zu unterhalten macht viel müder, als ich mir das je vorgestellt hätte. Mit meinem Japanisch geht es immer besser, auch wenn ich zugeben muss, dass ich gerne schneller Fortschritte machen würde. Aber ich habe ja noch mehr als genug Zeit.

Auch wenn mein Alltag jetzt nicht sonderlich spannend klingt, ist doch jeder neue Tag hier für mich ein neues Abenteuer, eine neue Gelegenheit Dinge auszuprobieren, von denen ich in meinem ganzen Leben noch nie gehört habe. Oder hat jemand von euch je schon Reis gewaschen?

Ich lerne jeden Tag ein bisschen Japanisch hinzu, bin jeden Tag ein oder zwei Wörter näher an meinem Ziel; ich treffe unbekannte Leute, esse exotische Lebensmittel und mache immer wieder neue Entdeckungen. Die können manchmal auch ganz schön gruselig sein, wie ich letztens feststellen musste, als ich eine Motte gesehen habe, die grösser war als meine eigene Faust... Zum Glück sind die Spinnen hier normalgross! ;)

Weil meine Zeit in Japan begrenzt ist, versuche ich jeden Tag, den ich in diesem wundervollen Land verbringen darf, voll auszunutzen. Ich habe schon soviel erlebt und gesehen, dass ich wahrscheinlich mehr als einen Blogeintrag benötigen würde, um euch davon erzählen zu können. Und ja: Ich habe es tatsächlich nochmals geschafft mich zu verlaufen. Aber dieses Mal habe ich wenigstens alleine wieder nach Hause gefunden.

Ich weiss nicht so recht, was ich mit diesem Eintrag eigentlich aussagen will; ich bin einfach nur glücklich hier und bereue keine einzige Sekunde lang, dass ich den Schritt ins Austauschjahr, nein, in mein Jahr, gewagt habe. Mir ist klar, dass es nicht immer so sein wird – spätestens wenn das Heimweh einsetzt und die Anfangseuphorie verflogen ist, werde ich die Sache wohl wieder aus einem völlig anderen Blickwinkel betrachten.

Doch darüber will ich eigentlich noch gar nicht nachdenken. Warum auch? Es wird wahrscheinlich sowieso anders, als ich mir das jetzt vorstelle. Also werde ich es einfach auf mich zukommen lassen.

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Kommentare: 1
  • #1

    Aschwanden Hans (Sonntag, 15 September 2013 21:39)

    Hey Evelyne, super geschrieben. Das ganze ist ja ganz ähnlich wie bei uns ausser der Reis natürlich...

    Bei uns kommt der Herbst unaufhaltsam näher, mit Schnee auf 1200 Meter am nächsten Dienstag. Wir werden sehen.....

    Liebe Grüsse Pa