Erdbeben

Ich sass mit den beiden andern Austauschschülern und unserem Japanisch-Sensei in der Bibliothek und redete über belangloses Zeug, als es begann. Zuerst ertönte ein dumpfes Grollen, ähnlich wie ein ferner Donnerschlag, das immer lauter wurde. Dann begann der Boden unter meinen Füssen auf einmal zu zittern. Bevor ich überhaupt realisieren konnte, was gerade geschah, begann der ganze Raum zu beben und bewegte sich hin und her; langsam, aber stetig, als würden wir auf einem Schiff mitten im Ozean treiben. Mein Magen verkrampfte sich und mein Herz setzte für ein paar Schläge aus, als das Beben intensiver wurde.

Und dann war es wieder vorbei, so schnell und plötzlich es gekommen war, als wäre nie etwas passiert. Stille legte sich über den Raum. Mein Sensei sah mich an und lachte. „Dein erstes Erdbeben?“, fragte er. Ich nickte.

Mit den Erdbeben ist das so eine Sache. Ich wusste natürlich schon im Voraus, dass es eine Menge davon in Japan geben würde. Mir war klar, dass ich früher oder später auch Erdbeben miterleben würde – aber nie hätte ich gedacht, dass sie so anders sein würden, als ich sie mir vorgestellt habe. Damit meine ich nicht nur das Beben an sich, sondern vielmehr das, was es in mir drin auslöst: Herzklopfen, zitternde Hände und ein seltsames Ziehen im Magen. Ich bin mir nicht sicher, ob es Angst ist, Panik oder einfach nur Überforderung mit dieser neuen, unbekannten Situation. Ein Erdbeben bedeutet für mich die Kontrolle zu verlieren. Ich habe keine Ahnung, wann es kommen wird, wie stark es sein wird und wann es wieder enden wird – ich bin dieser Naturgewalt völlig hilflos ausgeliefert. Die Tatsache, dass Sendai 2011 vom grossen Erdbeben und dem darauffolgenden Tsunami schwer beschädigt wurde, macht das Ganze auch nicht gerade besser. Doch auch das Überwinden der eigenen Ängste ist nur eine von vielen Herausforderungen, denen man sich in einem Austauschjahr stellen muss.

So richtig klar geworden ist mir das wieder Donnerstagnacht. Ich erwachte plötzlich, weil ich bemerkte, wie mein Herz raste. Zuerst glaubte ich einen Albtraum gehabt zu haben, doch als das Grollen einsetzte, wurde mir sofort klar, dass ich damit falsch lag. Das Zittern folgte, doch diesesmal stärker als ich es je zuvor erlebt hatte. Auf meinem Futon liegend konnte ich jede einzelne Bewegung des Bodens spüren. Das Beben dauerte länger als normalerweise und war intensiver und irgendwie auch bedrohlicher als sonst, doch schliesslich verschwand das Zittern wieder und die Erde stand still wie zuvor. Im Gang ging das Licht an, meine Gasteltern redeten miteinander und schienen sicherstellen zu wollen, dass nichts kaputt gegangen war, dann wurde es wieder dunkel. Von draussen hörte ich, wie die Grillen wieder zu zirpen begonnen hatten. Ich warf einen Blick auf meinen Wecker; halb 3 Uhr früh. Schlafen konnte ich in dieser Nacht nicht mehr.

Als ich meine Gastschwester am nächsten Morgen auf das Beben ansprach, meinte sie nur, dass sie zwar auch aufgewacht sei, sich aber nur „Ach, nicht schon wieder...“ gedacht habe und daraufhin wieder eingeschlafen sei. Im Gegensatz zu mir findet hier niemand etwas Besonderes an Erdbeben. Während ich jedes Mal fast einen Herzstillstand erleide ;), haltet meine Gastfamilie meist nur kurz inne und widmet sich dann wieder ihrer Beschäftigung. Wahrscheinlich mache ich mir doch nur wieder zuviele Gedanken, aber die Tatsache, dass sich der Boden jederzeit – selbst jetzt, während ich diesen Blogeintrag schreibe – wieder heben könnte, hinterlässt bei mir schon ein seltsames Gefühl. Es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe, im Durchschnitt jeden zweiten Tag von einem Erdbeben heimgesucht zu werden. Darum herumkommen werde ich auf jeden Fall nicht – egal wie gerne ich das auch tun würde. Aber das wird schon werden. Irgendwie. ;)

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