Krank sein auf Japanisch

Es gibt Dinge in einem Austauschjahr, auf die man im Voraus gerne verzichten würde. Krank sein ist bestimmt eines davon.

Bei mir begann es am Mittwochmorgen mit einem leichten Husten. Wer mich kennt, weiss ja, dass ich normalerweise nicht zu den Menschen gehöre, die bei jeder neuen Grippewelle wieder tagelang im Bett liegen müssen. Doch in Japan sind die Spielregeln wohl anders, befürchte ich. Seit ich mein Austauschjahr angetreten habe, war ich eigentlich durchgehend erkältet – natürlich nicht schlimm, ein bisschen Kopfschmerzen oder eine tropfende Nase, mehr nicht. Aber trotzdem genug, um zu begreifen, dass mein Immunsystem wohl nicht gegen die japanischen Krankheitserreger gewappnet war – oder vielmehr: immer noch nicht ist.

So kam es also vor ein paar Tagen, wie es kommen musste: Ich wurde krank. Am Donnerstag dachte ich noch, dass es wohl nur eine kleine Erkältung sei, und ging normal – mit einer Schutzmaske bewaffnet, wie hier in Japan üblich – zur Schule. Nach der Pause setzten die Kopfschmerzen ein und weil ich natürlich keine Tableten dabei hatte, bat ich meine Klassenlehrerin um Hilfe. Als ich ihr sagte, dass ich mich nicht ganz wohl fühlen würde, hätte ich nie damit gerechnet, dass soe mich gleich ins Krankenzimmer schleppen würde – zudem ich nicht einmal gewusst hatte, dass es das an meiner Schule überhaupt gab. Ihr könnt euch ja vorstellen, dass ich dementsprechend überrascht war, als ich das Zimmer betrat. Es fühlte sich an, als wäre ich direkt in einer dieser Klischee-High-Schools aus einem amerikanischen Hollywood-Streifen gelandet – nur, dass das eben nicht Amerika war sondern Japan.

Kaum war ich eingetreten, kam auch schon die Krankenschwester angeschwirrt, um meine Temperatur zu messen. Die war jedoch völlig normal. Meine Klassenlehrerin beharrte trotzdem darauf, dass ich mich im Krankenzimmer etwas ausruhen sollte und weil mir eine Freistunde sowieso gerade recht kam ;) , tat ich das auch. Als die Krankenschwester mich fragte, ob ich auf einem der herumstehenden Betten schlafen wolle, lehnte ich jedoch dankend ab. Das kam mir dann doch etwas übertrieben vor.

Weil meine Kopfschmerzen noch gut aushaltbar waren, begann ich mich mit dem andern Mädchen, das mit mir im Zimmer sass, zu unterhalten. Wie sich herausstellte, war sie nicht wirklich krank, sondern nur todmüde und bettelte deshalb bei der Krankenschwester um eine Dispens (die sie schlussendlich auch bekam). Mein Japanisch war inzwischen gut genug, um mit ihr und der Schwester ein längeres Gespräch zu führen und so verbrachte ich den Rest der Stunde damit, über die vielen Unterschiede zwischen Japan und der Schweiz zu diskutieren.

Kaum hatte die Glocke geklingelt, standen auch schon zwei meiner Klassenkameradinnen im Türrahmen, um sich nach meinem Wohlergehen zu erkundigen. Sie waren beide überrascht, als ich mich entschied in die Lektion zurückzukehren. Auch die Lehrerin machte grosse Augen, als ich plötzlich wieder im Schulzimmer auftauchte. „Muri shinaide“, sagte sie; ich solle es besser nicht übertreiben. Das war ein guter Ratschlag, denn während des Tages spürte ich, wie es mir langsam aber stetig immer schlechter ging. Nach der Schule waren meine Kopfschmerzen beinahe unerträglich geworden und ich war froh endlich Zuhause anzukommen. Um 6 Uhr entschied ich mich ins Bett zu gehen, doch zuvor wollte meine Gastschwester unbedingt nochmals meine Temperatur messen. Die war natürlich immer noch normal – ich fühlte mich auch kein bisschen fiebrig, dafür aber umso schlechter, als ich am nächsten Morgen erwachte. Mir war klar, dass ich heute nicht zur Schule gehen konnte, denn ehrlich gesagt fühlte ich mich hundeelend, wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Also beugte ich mich meinem Schicksal und verbrachte den Tag überwiegend mit Schlafen und Fernsehen. Gegen Abend kehrten Okaasan und Otousan schliesslich wieder von der Arbeit zurück. Das erste, was sie taten, war wiedermal mein immer noch nicht vorhandenes Fieber zu messen. Ihr hättet meinen Blick sehen sollen, als sie mich anschliessend allen Ernstes fragten, ob ich nicht doch lieber ins Krankenhaus gehen wolle.

„Nein, danke“, lehnte ich schliesslich höflich ab. „Es geht schon.“

„Bist du sicher?“, fragte meine Gastmutter völlig überrascht.

„Ja. Alles in Ordnung.“

„Na, dann nimm aber wenigstens etwas Medizin“, sagte sie dann.

Medizin?!, schoss es mir durch den Kopf und wieder breitete sich ein völlig verwirrter Ausdruck auf meinem Gesicht aus. Natürlich – ich war krank. Aber doch nicht so krank, dass ich tatsächlich Medizin gebraucht hätte!

„Es ist doch halb so wild“, versuchte ich meiner Gastmutter klar zu machen, doch alles, was sie dazu zu entgegnen hatte, war: „Keine Sorge: Japanische Medizin ist stark.“

Die sogenannte „Medizin“ war nichts Weiteres als ein gelbes Pulver, das ich mir auf die Zunge schütten und anschliessend mit Wasser hinunterspülen musste. Fazit: Weder sonderlich schmackhaft, noch in irgendeiner Weise angenehm – aber ich hab's überlebt.

Die Wirkung der Medizin setzte überraschend schnell ein, sodass ich mich beim Abendessen schon wieder pudelwohl fühlte. Okaasan war eher skeptisch, was meine plötzliche Wunderheilung anging, und schickte mich deshalb trotzdem in aller Frühe ins Bett. Danach – so erzählte mir meine Gastschwester später – habe sie sich die halbe Nacht lang Sorgen um mich gemacht, weil sie Angst hatte, dass ich die starke japanische Medizin nicht vertragen würde. ;)

Am nächsten Morgen war ich dann – jedenfalls nach meiner Definition – wieder gesund. Das Haus verliess ich an diesem Tag aber trotzdem nicht, einfach weil ich nicht wollte, dass sich meine Gasteltern noch mehr Sorgen um mich machen mussten.

Tja, und was habe ich nun aus der ganzen Sache gelernt? Auch wenn es nicht gerade schön ist: Krank sein gehört wohl ebenfalls zu einem Austauschjahr dazu – und ist rückblickend nebst all den Strapazen doch eine interessante Erfahrung. Schliesslich haben Menschen auf der ganzen Welt andere Vorstellungen davon, wie man eine Erkältung am Besten auskuriert – oder was glaubt ihr, wie meine Gasteltern gestaunt haben, als ich ihnen erzählt habe, dass wir in der Schweiz Cola gegen Übelkeit trinken? :)

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