Neujahr

Kaum war die diesjährige Weihnachtszeit mit all ihren unvergesslichen Momenten (und den ein oder anderen Pannen...) vorüber, stand auch schon Neujahr vor der Tür. Oder wie man es in Japan nennt: お正月 (oshougatsu).

In meinen vorherigen Blogeinträgen habe ich bereits erwähnt, dass ich mit meiner Gastfamilie über Silvester Sendai verlassen und stattdessen die Mutter meines Gastvaters in der Aomori-Präfektur besuchen gehen würde. Aomori ist die nördlichste Präfektur Honshūs, der Hauptinsel Japan, und bekannt für ihre Apfelplantagen. Mit dem Shinkansen ist es praktisch ein Katzensprung von Sendai nach Aomori (Fahrzeit: gut eine Stunde), während sich der Weg über die normalen Strassen doch um einiges in die Länge zieht. Das durfte ich auch gleich am eigenen Leib erfahren, als meine Gastfamilie sich dazu entschied, die ganze Reise mit dem Auto anzutreten.

Am frühen Morgen des 30. Dezembers ging es also los: Nachdem wir unser ganzes Gepäck (was überraschend viel war) im Kofferraum verstaut hatten, machten wir uns auf den Weg in den Norden. Ich selbst konnte es kaum erwarten, wieder einmal aus Sendai hinauszukommen und aufs Land zu fahren, vor allem weil ich wusste, dass mich dort endlich der lang ersehnte Schnee erwarten würde. Diese Vorfreude führte auch dazu, dass mir die Fahrt nicht ganz so lang vorkam, obwohl es doch beinahe sechs Stunden waren, die wir gemeinsam im Auto verbrachten. Müde und völlig erschlagen erreichten wir also irgendwann am späteren Nachmittag den Heimatort meines Gastvaters in Aomori, wo uns bereits dessen Mutter sehnsüchtig erwartete.

„Dieses Jahr haben wir Evi mitgebracht“, sagte meine Gastschwester, nachdem sie ihre Grossmutter begrüsst hatte.

„Ebi?“, erwiderte diese mit grossen Augen. Ebi, das ist die japanische Bezeichnung für das, was wir in der Schweiz Crevetten nennen. Weil die Japaner unser deutsches „V“ nicht von einem „B“ unterscheiden können, wird mein Spitzname hier meistens falsch verstanden – was dementsprechend oft zu Situationen wie dieser führt.

Die Begrüssung zwischen der Grossmutter, die von allen nur „Ba-chan“ (Kurzform für Obaasan) genannt wird, und mir verlief also ziemlich schräg, musste ich ihr doch erst einmal fünf Minuten lang erklären, dass mein Name nicht mit den kleinen pinken Meereskrebsen zu verwechseln war. Die Bemühungen hätte ich mir jedoch auch sparen können, hatte Ba-chan meinen Namen sowieso gleich wieder vergessen. ;)

Nachdem wir also ein paar erste Worte gewechselt hatten, ging es ans Einziehen. Ba-chans Haus ist zwar sehr gross, weil sie dort seit dem Tod ihres Mannes ganz alleine lebt, aber auch ziemlich alt. Das wäre ja für eine Europäerin wie mich eigentlich ziemlich faszinierend, ist doch das ganze Haus noch im traditionell-japanischen Stil gehalten – würde es nicht auch bedeuten, dass man im Innern kaum gegen die winterliche Kälte geschützt ist. Heizung? Fehlanzeige! Von Isolation will ich hier gar nicht erst anfangen... Der einzige Raum im ganzen Haus, in dem es einigermassen warm war, war das Wohnzimmer – und das auch nur dank den elektrischen Öfen, die meine Gasteltern mitgebracht hatten, und dem Kotatsu.

Ich teilte mir das Zimmer mit meiner Gastschwester, die ein Jahr älter ist als ich. In Japan scheint beinahe jeder Haushalt einen riesigen Vorrat an Futons und warmen Decken zu besitzen, auch Ba-chan hatte einen ganzen Schrank davon vollgestopft. Allerdings hatte sie den scheinbar seit Ewigkeiten nicht mehr geöffnet; die Ansammlung von toten Käfern im Innern sprach da für sich. Was bei mir einen Lachanfall auslöste, fand meine Gastschwester nicht so witzig und verdonnerte meinen Gastvater dazu, das ganze Zimmer nochmals gründlich staubzusaugen.

Die ersten Anfangsschwierigkeiten überwunden, setzte langsam der neue Alltag ein. Weil Ba-chan auf dem Land lebt, gab es nicht wirklich viele Orte, wo meine Gastschwester und ich hätten hingehen sollen, also bleiben wir mehrheitlich den ganzen Tag im Wohnzimmer, um nicht zu erfrieren. Für mich war es wieder mal eine willkommene Abwechslung aus der Stadt herauszukommen; kein ständiges Sirenengedröhne, keine endlos langen Häuserreihen und vor allem: keine Erdbeben! :)

Selbstgebauter Schneemann meiner Gastschwester und mir
Selbstgebauter Schneemann meiner Gastschwester und mir

Langweilig wurde es mir überraschenderweise überhaupt nicht. Ich nutze die Zeit vorwiegend mit Japanischlernen oder Fernsehen. Es war angenehm, meine Gastmutter, die sonst eigentlich immer arbeitet, mal in ihrer Freizeit zu sehen und es gab mir die Möglichkeit, sie nochmals von einer ganz anderen Seite kennenzulernen. Selbst Ba-chan und ich näherten uns während diesen fünf Tagen langsam aber sicher an, auch wenn sich unsere Konversationen wegen Ba-chans starkem Aomori-Dialekt schon recht in Grenzen hielten.

Am zweiten Tag war es dann endlich soweit und Silvester stand vor der Tür. Der Abend begann wie erwartet mit einer riesigen Auswahl an Essen; von Osashimi bis hin zu Krabbenbeinen war alles dabei, was eben zu einem japanischen Festmahl dazu gehört. Wir assen, bis wir nichts mehr essen konnten, und doch war der Abend noch lange nicht zu Ende. Während Ba-chan sich schon um 9 Uhr von uns verabschiedete und schlafen ging, sah ich mit meiner Gastfamilie irgendeine Musikshow im Fernsehen.

Festmahl am Neujahrsabend
Festmahl am Neujahrsabend

Um Mitternacht, so erzählte mir meine Gastmutter, würde dann in jedem Tempel in Japan eine riesige Glocke genau 108 Mal anschlagen werden, um so alle 108 „bösen“ Eigenschaften des Menschen zu vertreiben. Für die Japaner, so erklärte sie mir weiter, ist das Neujahr ein klarer Abschluss von allem, eine Art Neuanfang, bei dem man alles hinter sich lassen kann; es gibt sogar „Jahresabschiedspartys“, sogenannte Bounenkai (忘年会), bei denen sich die Erwachsenen mit ein paar Freunden versammeln und zusammen trinken, um all die schlechten (und auch guten) Dinge des letzten Jahres zu vergessen.

Während wir also so da sassen und fern sahen, begannen wir darüber zu reden, wie unser Jahr denn verlaufen war. Meines war auf jeden Fall aufregend und intensiv – nicht immer ganz einfach, aber auf jeden Fall ein gutes Jahr. :)

Schliesslich war es endlich soweit: Der Zeiger der Uhr bewegte sich auf die Zwölf; 2014 brach an. Wir gratulierten einander – und assen erneut. Ihr könnt euch ja vorstellen, wie überrascht ich war, als meine Gastmutter plötzlich mit ein paar Schüsseln Sobanudeln auftauchte. Das sei hier so Tradition, sagte sie nur.

Wie erwartet, wurde es ziemlich spät, bis ich ins Bett ging. Lange Zeit zum Erholen blieb mir aber nicht, denn um 6 Uhr stand ich bereits wieder auf. Gemeinsam mit meinem Gastvater und meiner Gastschwester fuhren wir mit dem Auto auf einen kleinen Hügel, von dem aus wir einen tollen Ausblick über die Gegend hatten. Der Himmel war bewölkt, aber zum Glück klarte er langsam auf, als sich kurz vor Sieben die Sonne blutrot über den Horizont schob. Während in der Schweiz Mitternacht noch nicht einmal verstrichen war, beobachteten wir also den ersten Sonnenaufgang des neuen Jahres; ein wunderbares Erlebnis, das ich bestimmt nie wieder vergessen werde.

Der erste Sonnenaufgang des neuen Jahres
Der erste Sonnenaufgang des neuen Jahres

Als wir zu Ba-chans Haus zurückkehrten, assen wir erst einmal Mochi (ebenfalls ein traditionelles Neujahrsgericht) in allen Varianten zum Frühstück und holten dann den verpassten Schlaf nach. Am nächsten Tag ging es schliesslich zu einem nahegelegenen Schrein, wo wir die Götter auch im neuen Jahr um Glück baten. Dort durfte ich mir auch die Zukunft vorhersagen lassen, in dem ich einen Zettel ziehen musste, auf dem meine „Prognosen“ für das nächste Jahr standen. Ich zog „Taiji“, also grosses Glück, und werde demnach wohl auch 2014 meine Zeit in Japan in vollen Zügen geniessen können.

An diesem Morgen bekamen meine Gastschwester und ich auch das traditionelle Neujahrsgeld (Otoshidama), das uns von meinen Gasteltern in einem kleinen Couvert überreicht wurde. Doch sie waren nicht die einzigen, die uns Geld schenkten: Scheinbar jeder, der uns an diesem Tag begegnete, hatte das Gefühl uns etwas schenken zu müssen. Zu guter Letzt hatte ich eine Menge Geld bekommen, mehrheitlich von Leuten, die ich eigentlich gar nicht kenne. Aber auch das gehört wohl in Japan dazu.

Nach dem ganzen Trubel um das neue Jahr stand dann schliesslich auch schon bald der Abschied von Ba-chan und Aomori an. Das schönste an diesem Tag war wohl, dass Ba-chan sich endlich meinen Namen gemerkt hatte und mir sagte, dass ich doch bitte jederzeit wiederkommen solle. Im Moment weiss ich leider nicht, ob das möglich ist, aber ich würde auf jeden Fall wieder nach Aomori zurückkehren – trotz der Kälte...

Tja, und nun bin ich also wieder Zuhause in Sendai, mit einer Menge schöner Erinnerungen im Kopf, und tippe an diesem Blogeintrag. Vor ein paar Minuten, kurz nach unserer Ankunft hier, hat es gerade wieder ein Erdbeben gegeben – fast so, als hätte es mir sagen wollen: „Willkommen zurück, Evi....“ ;)

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Olivia (Sonntag, 05 Januar 2014 11:53)

    ai vo mier nu es guets neys Jahr, gniess deyni Zeyt in Japan!! :*