Der Mai (五月)

Bevor ich zu meiner neuen Gastfamilie kam, hatte ich mir nie viel Gedanken darüber gemacht, wie stressig so ein Gastfamilienwechsel sein konnte. Doch nachdem ich das am eigenen Leib erfahren musste, ist mir klar geworden, dass ein Familienwechsel und die ersten paar Wochen eines Austauschjahres doch verblüffend ähnlich sind. Man braucht erst einmal Zeit, um sich an seine neue Umgebung zu gewöhnen; man wird unglaublich vielen neuen Leuten vorgestellt, deren Namen man beim nächsten Treffen bereits wieder vergessen hat; und man versucht den neuen Schulweg so schnell wie möglich einzuprägen. Der einzige Unterschied sind wohl die berüchtigte Sprachbarrieren, die ich bei meiner jetztigen Familie glücklicherweise aber nicht hatte.

Kurz gesagt: Ein Gastfamilienwechsel bedeutet beschäftigt sein, und beschäftigt sein in einem Austauschjahr bedeutet viele unvergessliche Erinnerungen machen zu können. Würde ich alles aufschreiben, was seit dem letzten Blogeintrag passiert ist, würde ich das wohl kaum in einen Eintrag pressen können. Deshalb nachfolgend also eine Zusammenfassung der ereignisreichsten Dinge, die im letzten Monat so passiert sind. :)

 

Iwate Safari-Park

Am 1. Mai (der Tag meines Gastfamilienwechsels, übrigens...) ging es mit meiner ganzen Klassenstufe zum Ensoku (遠足). Ensoku bedeutet soviel wie "Picknick" oder "Ausflug" und ist an meiner Schule die Bezeichnung für eine eintägige Klassenfahrt, die jedes Jahr ein Mal statt findet. Ein Schultag ohne Unterricht also; kein Wunder, dass sich jeder bereits im Voraus drauf gefreut hat.

Was mich angeht, war meine Stimmung wegen des bevorstehenden Gastfamilienwechsels eher ein wenig getrübt. Das änderte sich jedoch schnell, als ich am Morgen des Ensoku die Schule erreichte - das Ensoku ist nämlich auch der einzige Schultag im Jahr, an dem keine Uniformpflicht besteht! Ich fühlte mich ehrlich gesagt schon etwas fehl am Platz mit meinen einfarbigen T-Shirt zwischen all meinen aufgepeppten und modelähnlich gekleideten Klassenkameraden; aber das ist ein Gefühl, das wohl jeder Ausländer in Japan nur zu gut kennt... ;)

Ziel des Ensoku war der Safari-Park in Iwate, wo es von weissen Löwen bis hin zu riesigen Bisons so ziemlich alles zu bestaunen gab. Fast interessanter als die Tiere waren jedoch die Reaktionen meiner Klassenkameradinnen, wenn wiedermal eine Giraffe ihren langen Hals durch das Fenster ins Innere des Busses steckte... Am Ende des Tages haben mir zwar vor lauter Geschrei die Ohren wehgetan, aber allem in allem wird mir sicher auch das Ensoku in guter Erinnerung bleiben. :)

Eine neugierige Giraffe auf der Suche nach Futter :)
Eine neugierige Giraffe auf der Suche nach Futter :)

BBQ & Takoyaki-Party

Meine jetztige Gastfamilie ist sehr religiös, womit sie in Japan schon eine ziemliche Minderheit darstellen. Die meisten Menschen hier bezeichnen sich als Buddhisten, obwohl sie auch viele Zeremonien aus andern Religionen (z.B. Christentum) praktizieren. Der Grossteil der Japaner ist jedoch nicht unbedingt religiös und selbst unter den Schülern an meiner Schule, die eigentlich eine christliche Privatschule ist, gibt es kaum solche, die sich als "Gläubige" bezeichnen würden.

Für mich ist meine neue Gastfamilie also in ganz vielen Bereichen eine bereichernde Erfahrung. Meine Gasteltern zwingen mich zwar zu nichts, aber ich versuche natürlich trotzdem -  einfach nur aus Respekt - sonntags gemeinsam mit ihnen zur Kirche zu gehen oder sie an andere religiöse Anlässe zu begleiten. Auch wenn die Dinge, die wir glauben, schon sehr unterschiedlich sind, bin ich froh um die Chance, mit meiner Gastfamilie offen über solche Sachen reden zu können. Das sind nämlich genau diese Momente, welche mich immer wieder daran erinnern, was es eigentlich heisst, ein Austauschjahr zu machen; andere Kulturen zu entdecken und andere Denkweisen zu verstehen versuchen.

Bereits am Tag nach dem Wechsel hat mich meine Gastfamilie also zu einem solchen religiösen Anlass, zu einem BBQ der Kirche um genau zu sein, mitgenommen. Zuerst war ich natürlich ein wenig skeptisch, was da genau auf mich zukommen würde; schliesslich kannte ich ja ausser meinen Gasteltern niemanden wirklich. Doch der Nachmittag stellte sich als superschönes Erlebnis heraus, das mich nicht nur meiner Gastfamilie etwas näher brachte, sondern es mir auch erlaubte, viele neue Menschen zu treffen und Freunde zu machen.

Ein paar Tage später lud mein Gastvater dann schliesslich einige dieser neuen Freunde in unser Haus ein, wo wir eine Takoyaki-Party veranstalteten. Takoyaki sind eine Art runde Klumpen Teig, in dessen Innern sich ein Stück von einem Oktopus befindet ("Yaki" bedeutet soviel wie "gebacken" und "Tako" ist das japanische Wort für Oktopus). Klingt etwas schräg, ist jedoch eines meiner Lieblingsgerichte hier in Japan und super fein. Dazu kommt noch, dass mein Gastvater ursprünglich aus der Osaka stammt, der Ursprungsort von Takoyaki, und dementsprechend Takoyaki wie ein Profi herstellen konnte. Dass die Takoyaki unglaublich lecker waren, versteht sich nun ja von selbst. :)

 

Ta-Ue (田植え)

Das japanische Wort Ta-Ue setzt sich zusammen aus dem Begriff "ta" (田), was soviel wie "Reisfeld" bedeutet, und dem Verb "ueru" (植える), also "pflanzen". Kurz gesagt ist Ta-Ue also das Bepflanzen des Reisfeldes mit neuen Reispflanzen im Spätfrühling - und das war genau das, was die anderen Austasuchschüler aus meinem Chapter und ich am Sonntag vor 3 Wochen getan haben.

Meine Austauschorganisation veranstaltet diesen Anlass jedes Jahr, um den Austauschschülern diese Seite der japanischen Kultur etwas näher zu bringen. Das Ganze war jedoch völlig anders, als ich es mir im Voraus vorgestellt hatte. Das "Reisfeld" entpuppte sich als riesige Pfütze aus Wasser und Schlamm, in die man die Reissetzlinge hineinstecken musste. Kaum hatte ich jedoch einen Schritt in das Feld gesetzt, blieben meine Stiefel sofort im dicken Schlamm stecken, sodass ich mich kaum mehr vorwärts oder zurück bewegen konnte. Auch den andern Austauschschülern erging es nicht besser, also entschieden wir uns kurzerhand dazu, die Stiefel auszuziehen und eben barfuss weiterzumachen. Hat auf jeden Fall Spass gemacht. :)

Reispflanzen
Reispflanzen

Nachdem wir mit dem Bepflanzen fertig waren, gab es Tee und Kekse bei den Besitzern des Feldes. Schliesslich fuhren wir noch alle zusammen zu einem der unzählig vielen Orte, die der Tsunami vor 3 Jahren zerstört hatte, und der ganz in der Nähe meines vorherigen Wohnortes liegt. Es war schon ziemlich eindrücklich dort hinzugehen und sich vorzustellen, dass an diesem Ort, an dem nun nichts als Staub und Leere ist, mal Menschen gelebt haben. Bei der Betrachtung des Denkmals und den Namen der Menschen, die an jenem Tag gestorben sind, wurde ich dann auch ziemlich nachdenklich. Mir wurde wieder einmal bewusst, wie viel Glück wir in der Schweiz haben, von solchen Unlgücken verschont zu bleiben...

Um die Laune nach dieser traurigen Besichtigung wieder etwas aufzuheitern, lud ich die beiden andern Austauschschüler ein, gemeinsam Bowling spielen zu gehen. Diese sind beide erst im März dieses Jahres nach Japan gekommen und stehen deshalb immer noch am Anfang des Jahres. Es war für mich irgendwie fast nostalgisch, mich mit ihnen zu unterhalten und mir ihre Probleme über die mangelnden Japanischkenntnisse oder die Herausforderung, Freunde zu finden, anzuhören. Sie erinnerten mich daran, wie es war, als ich nach Japan kam, wie die Dinge waren vor nun bald schon 10 Monaten. Und es machte mir wieder mal klar, wie kurz so ein Jahr eigentlich ist. Mir fällt es immer noch schwer zu glauben, dass ich in bald einem Monat schon wieder zurück in der Schweiz sein werde. Ich kann kaum realisieren, wie schnell die Zeit vergangen ist - und doch sind so viele Dinge passiert, die ich wahrscheinlich selbst noch nicht so ganz verarbeitet habe. Was bleibt mir also übrig ausser die restliche Zeit hier noch zu geniessen, Geschenke einzupacken und mich an den Gedanken zu gewöhnen, bald wieder Schweizerdeutsch reden zu können - die Zeit lässt sich schliesslich nicht anhalten... ;)

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