Verstrahlt, verstaucht, Verkehrsunfall

Ich kann mit reinem Gewissen sagen, dass diese Woche wohl eine der ereignisreichsten Wochen meiner ganzen bisherigen Zeit hier in Japan war - im guten und im schlechten Sinne. Einerseits waren es bestimmt die stressreichsten und nervenaufreibendsten Tage seit dem Gastfamilienwechsel, andererseits konnte ich in dieser Zeit aber auch wieder unglaublich viele Dinge erleben, die mir zurück in der Schweiz bestimmt in guter Erinnerung bleiben werden.

Begonnen hat alles am Montagabend, als ich auf dem Weg von der Schule zurück nach Hause war. Es dämmerte bereits und ich beeilte mich deshalb, mit meinem Velo schnell die Viertelstunde vom Bahnhof bis zum Haus meiner Gastfamilie zurückzulegen. Zu allem Überfluss war ich an jenem Tag auch noch ziemlich in Gedanken versunken und hundemüde - ihr könnt euch wahrscheinlich gar nicht vorstellen, was das drohende Ende eines Austauschjahres alles so mit sich bringt... Auf jeden Fall war ich wohl mehr mit meinen gut strukturierten Plänen für die nächsten Wochen anstatt mit Fahrradfahren beschäftigt und jeder kann sich wohl denken, dass das kaum gute Folgen haben würde. Es kam so, wie es kommen musste: Ich übersah eine rote Ampel, prallte in ein von der anderen Seite kommendes Auto und wurde im hohen Bogen auf die Strasse geschleudert. Die Diagnose des Arztes: Prellungen und leichte Blutungen. Nichts wirklich Schlimmes also - ich konnte wirklich von Glück reden, dass das Auto bloss mein Fahrrad und nicht mich selbst gerammt hatte. Trotzdem war mir die ganze Sache mehr als nur unangenehm, vor allem gegenüber meiner Gastfamilie, der ich damit nicht nur viele Sorgen sondern auch eine Menge Papierkram aufgestaut hatte. "Diese Woche kann wohl nur noch besser werden...", dachte ich mir dann also - doch weit gefehlt.

Am Dienstag jedoch war alles noch völlig in Ordnung. Da meine Klassenstufe gerade die Testwoche bestritt, konnte ich mir den Tag frei nehmen und gemeinsam mit meiner Gastmutter einen Ausflug machen. Zuerst fuhren wir mit dem Auto in die nächste Präfektur, nämlich Yamagata (山形; bedeutet etwa soviel wie "Berglandschaft"), um dort meine Gastgrossmutter abzuholen. Die hatte nämlich an diesem Tag ein Klassentreffen in Fukushima und war auf die Hilfe meiner Gastmutter angewiesen, weil sie selbst nicht mehr Auto fahren kann. Von Yamagata ging es also den ganzen weiten Weg in die Heimatstadt meiner Gastgrossmutter in Fukushima; eine Reise, die gut zweieinhalb Stunden dauerte. Für mich war es das erste Mal in Fukushima und ich muss zugeben, dass ich schon ein wenig nervös war - man hört ja immer wieder die ganzen Geschichten wegen der Radioaktivität dort. Meine Gastmutter erklärte mir daraufhin, dass Fukushima sehr gross sei - und manche Orte in Fukushima selbst wohl weniger verstrahlt seien als Sendai. Die Heimatstadt meiner Gastgrossmutter selbst liegt zwar nahe des Atomkraftwerks, sei aber "sicher", meinte meine Gastmutter weiter. Viele Leute, die wegen der Radioaktivität aus ihren Wohnorten vertrieben worden waren, würden hier leben, was dazu geführt habe, dass die Einwohnerzahl der Stadt sich in den letzten Jahren fast verdoppelt habe. 

Irgendwann am Vormittag erreichten wir den Ort des Klassentreffens schliesslich, wo wir meine Gastgrossmutter ausluden. Gemeinsam mit meiner Gastmutter ging es dann zuerst zu einem kleinen Fischermarkt und anschliessend in ein riesiges Meeresmuseum. Ich persönlich finde solche Museen ja unglaublich faszinierend - man kann sich gar nicht vorstellen, was sich alles für seltsame Tiere im Meer herumtreiben! Die Faszination meiner Gastmutter hingegen beschränkte sich vielmehr auf die Frage, welche von diesen Tieren man denn essen könne und welche nicht... Aber so sind sie eben, die lieben Japaner. ;)

Als wir abends nach unzähligen Stunde Fahrt (nach dem Museum ging es erst einmal wieder zurück nach Yamagata, um meine Gastgrossmutter auszuladen) endlich wieder Zuhause ankamen, war ich so erschöpft, dass ich mich während des Abendessens kaum wach halten konnte. Aber der Tag hatte sich auf alle Fälle gelohnt - ich hatte nicht nur viel über aussergewöhnliche Meerestiere lernen können, sondern auch die Beziehung mit meiner Gastmutter ein wenig vertieft und das war die ganzen Strapazen sicher wert.

Es kam jedoch wie es kommen musste und bereits am Mittwoch nahm das Schicksal wieder seinen Lauf... Der Morgen verlief eigentlich ganz normal - ich ging zur Schule und absolvierte dort ein paar Tests mit meinen Klassenkameraden, die mir sogar überraschend leicht fielen. Da Testwoche war, war die Schule bereits kurz vor Mittag zu Ende. Da noch nicht einmal 12 Uhr war, als ich am Bahnhof ankam, rechnete ich damit, dass mein Zug nach Hause wohl kaum besetzt sein würde - aber leider war das Gegenteil der Fall. Der Zug war sogar so übervoll, dass ich mich nicht einmal mehr irgendwo an einer Stange festhalten konnte. Bei einer plötzlichen Bremse stolperte ich also ungeschickt nach vorne und - wie hätte es auchg anders sein können? - verrenkte mir das rechte Bein. Den Schmerz spürte ich zuerst allerdings gar nicht wirklich. Erst als ich am nächsten Morgen aus dem Bett stieg und nicht mehr richtig gehen konnte, wurde mir klar, dass irgendetwas nicht stimmen konnte. Obwohl ich auch an diesem Tag mit meiner Gastfamilie etwas geplant hatte, ging es morgens zuerst (zum zweiten Mal in dieser Woche) zum Arzt. Dieser meinte, dass ich den Fuss wahrscheinlich leicht etwas verstaucht habe, aber dass das kein Anlass zur Sorge sei. Daraufhin nahmen wir - das heisst, meine Gastmutter, meine Gastschwester und ich - unsere Ausflugspläne also wieder auf und machten uns (auch bereits zum zweiten Mal in dieser Woche) auf den Weg nach Yamagata. Unser Ziel war der Berg Zao (蔵王), ein inaktiver Vulkan, auf dessen Gipfel sich ein riesiger Kratersee befindet. Dorthin kann man übrigens auch mit dem Auto fahren, für alle, die sich jetzt wundern, wie ich mit meinem verrenkten Fuss dorthin gekommen bin. ;)

Der Kratersee
Der Kratersee

Aufmerksame Leser mögen sich vielleicht daran erinnern, dass ich den Berg Zao schonmal bestiegen habe - ganz am Anfang des Jahres, beim Orientation Camp meiner Austauschorganisation. Damals waren wir den Berg jedoch von der andern Seite hochgefahren und hatten den See aufgrund eines Verkehrstaus auch nicht erreichen können. Umso mehr freute ich mich also, dass es mit meiner jetztigen Gastfamilie doch noch geklappt hatte - die Aussicht über den Kratersee war die lange Autofahrt auf jeden Fall Wert. :)

Der Berg Zao
Der Berg Zao

Auch am Freitag hiess es wieder: volles Programm. Diesesmal aber nicht mit meiner Gastmutter, sondern mit meinen Gastgrosseltern, die mit uns im selben Haus leben. Gemeinsam ging es in ein traditionelles japanisches Bad, sogenannte Onsen (温泉), das sich in einem Hotel nahe Sendai befand. Für mich war das Hotel allein schon irgendwie ein Highlight - Luxus aus dem Bilderbuch; mit einer riesigen Eingangshalle, in der Wasserfälle von oben hinabstürzten und liebevoll angelegte Brunnen, in denen sich Koi-Fische tümmelten. Nachdem mein Gastgrossvater zuerst einmal hunderte von Bildern mit mir und meiner Gastgrossmutter gemacht hatte ;), ging es schliesslich ins Bad.

Das Besondere an japanischen Bädern ist, dass sie nackt betreten werden - Frauen und Männer getrennt, versteht sich. Zuerst einmal gelangt man in einen kleinen Vorraum, in dem man seine Kleidung auszieht und die Wertsachen verwahrt. Dann schnappt man sich ein Badetuch und betritt das eigentliche Bad. Bevor man jedoch ins Wasser steigt, wäscht man seinen Körper gründlich mit allem, was eben dazu gehört. Im Bad selbst wird dann das Badetuch gefaltet und wie eine Art Hut auf den Kopf gesetzt - sieht witzig aus, ist aber auch ziemlich praktisch. Das Wasser ist kochend heiss und manchmal gibt es sogar Aussenbäder, wo man sich entspannen kann. 

Ich persönlich mag Onsen sehr, aber ich kenne auch viele Austauschschüler, die sie wegen des Nacktseins vor vielen Leuten eher meiden. Es gibt auch sehr viele Regeln, die man dabei beachten muss - Leute mit Tatoos dürfen ein Onsen zum Beispiel gar nicht betreten. Allgemein finde ich Onsen aber ein sehr schöner Teil der japanischen Kultur und in meinen Augen gehören sie zu Japan eben einfach dazu. :)

Ich könnte meinen Blogeintrag hier jetzt beenden, aber dann würde ich euch wohl verschweigen, was meine Woche schlussendlich wirklich stressig gemacht hat. Nach dem Onsen ging es nämlich nochmals zum Doktor - diesesmal zu einem Spezialisten - und der stellte fest, dass meine Verstauchung keine Verstauchung war sondern eine Spätfolge einer Verletzung, die ich vor ein paar Jahren einmal hatte. Was heisst das nun genau? Nun, ich darf mich nur noch so wenig wie möglich bewegen - Sport steht im Moment ausser Frage. Was die Pläne meiner Gastfamilie angeht, mit mir nächste Woche ins Disney-Land in Tokio zu gehen: Das steht im Augenblick ziemlich auf der Kippe. Wenn ich Pech habe, schaffe ich es dank dieser Verletzung auch nicht einmal mehr, einen Austauschschüler-Freund von mir am Flughafen zu verabschieden, der bereits nächste Woche nach Hause zurückgeht... :(

Tja, was soll ich sagen? Das Glück ist im Moment wohl nicht gerade auf meiner Seite, fürchte ich.... Stress am Ende eines Austauschjahres ist noch viel schlimmer, als es in den ganzen Büchern immer beschrieben wird. Und trotzdem bin ich froh hier zu sein, noch etwas Zeit mit meiner Gastfamilie und meinen Freunden verbringen zu können - trotz Verletzungen und Unfällen. Ich hoffe einfach, dass alles schnell wieder besser wird und ich den Rest meiner Zeit wirklich noch geniessen kann...

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